BAG: Nichtvorlage eines einrichtungsbezogenen Impfnachweises – unbezahlte Freistellung in Ordnung, Abmahnung ist unverhältnismäßig

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.06.2024 – 5 AZR 192/23

Die Pandemie ist nunmehr vorbei, jedoch bleiben immer noch Überbleibsel von ihr zurück. Nicht nur im privaten oder auch politischen Bereich sind die Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie noch spürbar. Auch im Bereich der Rechtsprechung werden noch Entscheidungen getroffen, deren Sachverhalte aus der damaligen Zeit stammen. Nunmehr hat das Bundesarbeitsgericht eine weitere Entscheidung getroffen, welche wesentliche Rechtsfragen in diesem Zusammenhang klärt.

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt ein Altenpflegeheim. In diesem war die Klägerin seit 2007 als Altenpflegerin beschäftigt. Die Klägerin ließ sich nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 impfen und legte der Beklagten entgegen einer gesetzlichen Vorgabe weder einen Impfnachweis noch einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Attest vor, welches bestätigte, dass sie nicht geimpft werden könne. Die Beklagte erteilte ihr aus diesem Grund eine Abmahnung. Zudem stellte sie die Klägerin ab dem 16. März 2022 bis auf Widerruf ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit frei. Vom 21. Bis zum 31. März 2022 war die Klägerin infolge einer Corona-Infektion arbeitsunfähig erkrankt.

Die Klägerin hatte daraufhin Klage gegen die Abmahnung sowie auf Auszahlung der restlichen Vergütung für März 2022 erhoben. Sie hatte geltend gemacht, dass keine arbeitsvertragliche Pflicht bestanden habe, dem Arbeitgeber den Impf- oder Genesenenstatus nachzuweisen. Die Beklagte sei nicht dazu berechtigt gewesen sie unbezahlt freizustellen. Als Bestandsmitarbeiterin wäre die zuständige Behörde für eine Untersagung zuständig gewesen. Die Beklagte beantragte Klageabweisung. Sie wandte ein, dass sie aufgrund der infektionsschutzrechtlichen Vorgaben berechtigt gewesen sei, in der Pflegeeinrichtung nur noch geimpftes oder genesenes Personal zu beschäftigen.

Die Vorinstanzen hatten der Klägerin die restliche Vergütung für März 2022 zugesprochen. Die Klage auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte hat das Arbeitsgericht abgewiesen; das Landesarbeitsgericht hatte dem Antrag stattgegeben.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Betreiber von Pflegeeinrichtungen nach § 20a Abs. 1 IfSG aF in der Zeit vom 16. März 2022 bis zum 31. Dezember 2022 nicht gegen das Coronavirus geimpfte Mitarbeiter*innen ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit freistellen durften. Eine Abmahnung sei dagegen nicht berechtigt.

Nach Ansicht der Richter habe die Klägerin für die Zeit ihrer Freistellung im März 2022 keinen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB), weil sie entgegen der Anordnung der Beklagten keinen Immunitätsnachweis iSd. § 20a IfSG aF vorgelegt habe und damit außerstande gewesen sei, die geschuldete Arbeitsleistung zu bewirken (§ 297 BGB). Nach § 20a IfSG aF sei nicht nur das Gesundheitsamt berechtigt, einer Person, die den Immunitätsnachweis nicht vorgelegt hatte, zu untersagen, die jeweilige Einrichtung zu betreten und dort tätig zu werden. Der aus der Gesetzesbegründung herzuleitende Zweck der Regelung, insbesondere vulnerable Bewohner von Pflegeeinrichtungen und Patienten von Krankenhäusern vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen und zugleich die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen aufrechtzuerhalten, eröffne ebenso den Arbeitgebenden als Betreibern dieser Einrichtungen die rechtliche Möglichkeit, im Wege des Weisungsrechts nach § 106 Satz 1 GewO die Vorgaben des § 20a IfSG aF umzusetzen und die Vorlage eines Immunitätsnachweises für den begrenzten Zeitraum vom 16. März bis zum 31. Dezember 2022 zur Tätigkeitsvoraussetzung zu machen. Da die Gesundheitsämter in jener Zeit völlig überlastet gewesen seien, sei anders eine sachgerechte und zeitnahe Umsetzung dieser Schutzmaßnahme, die die Interessen der besonders gefährdeten Personengruppen und die Funktionsfähigkeit der einzelnen Einrichtung berücksichtigte, nicht möglich gewesen. Dass sich in den Jahren danach Zweifel an der Effektivität dieser Maßnahme ergaben, stehe der Wirksamkeit der Weisungen nicht entgegen. Maßgeblich sei insoweit der Zeitpunkt der Weisung. Anfang des Jahres 2022 habe es der ganz überwiegender wissenschaftlicher und auch der vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Robert-Koch-Institut vertretenen Auffassung entsprochen, dass eine Impfung gegen das Coronavirus vor einer Übertragung des Virus schütze. Hiervon habe auch die Beklagte ausgehen können.

Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung der Klägerin im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG scheitere am Grundsatz der sog. Monokausalität. Die Erkrankung der Klägerin sei wegen des zugleich fehlenden Immunitätsnachweises nicht die alleinige Ursache für den Verdienstausfall gewesen.

Eine Abmahnung solle Arbeitnehmer*innen grundsätzlich auf eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten aufmerksam machen, sie für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auffordern und ihnen mögliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung aufzeigen. Eine unterlassenen Vorlage eines Immunitätsnachweises (§ 20a Abs. 2 IfSG aF) sei demnach keine abmahnfähige Pflichtverletzung. Das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde Selbstbestimmungsrecht der im Pflegebereich Tätigen, in freier Entscheidung eine Impfung gegen das Coronavirus abzulehnen, sowie deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sei von Arbeitgebenden als höchstpersönliche Entscheidung der Arbeitnehmer*innen zu respektieren gewesen. Wegen des von der Beklagten zu achtenden besonderen Charakters dieser grundrechtlich geschützten Entscheidung der Klägerin erweise sich die Abmahnung als ungeeignetes Mittel zur Verhaltenssteuerung. Aufgrund der mit ihr verbundenen Gefährdung des Bestands des Arbeitsverhältnisses sei sie – anders als der vorübergehende Verlust der Entgeltansprüche für die befristete Dauer der Freistellung – eine unangemessene Druckausübung und damit unverhältnismäßig.

Was bedeutet die Entscheidung für die Praxis?

Auch wenn die Entscheidung einige Rechtsfragen für die Vergangenheit klärt, kann sie Arbeitgebenden Klarheit zur Rechtmäßigkeit damals getroffener Entscheidungen geben. Die Regelung des § 20a IfSG aF ist seit Januar 2023 aufgehoben. Zudem können sich Arbeitnehmer*innen, die ebenfalls von ähnlichen Abmahnungen betroffen waren, nunmehr rechtsicher gegen diese vorgehen.

Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir auch in Zukunft in Lagen kommen werden, in denen die nunmehr getroffene Entscheidung ein Anhaltspunkt für künftige Rechtsfragen darstellen kann.

Quelle: Pressemitteilung 16/24 zur Entscheidung 5 AZR 192/23 des Bundesarbeitsgerichts

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